An diesem völlig verrückten Tag sitze ich gemütlich-privilegiert im IC nach Magdeburg, schön mit Kaffee serviert am Platz, Zeitschriften und Tablet, draußen scheinen gelb-orange Sonnenstrahlen Götterdämmerung-like aus einer Lücke in der grauen Wolkendecke … und ich frage mich, was man Sinnvolles zum Ukraine-Krieg, seiner medialen Aufbereitung, der Politik und dem persönlichen Befinden sagen kann. Hätte ich noch Twitter, würde ich mich wahrscheinlich durch ‚doomscrollen‘ dumm scrollen. Aber diese Sedierungsform steht mir nicht mehr offen (was gut ist).
Also arbeite ich irgendwie an einem Artikel für spielkritik.com, wo es um die Verarbeitung von Ukraine-Szenarien in Computer-Strategiespielen seit 2014 gehen soll, und ich recherchiere für einen Beitrag für den geplanten Sammelband „Politiken des (Digitalen) Spiels“, in dem ich Beziehungen zwischen dem sogenannten militärisch-industriellen Komplex und Computerspielen sowie der möglichen Rezeption und Reflexion seitens der Spieler*innen untersuchen werde. Beide Beiträge habe ich seit etwa Dezember im Hinterkopf, jetzt war die Wirklichkeit schneller.
Und eh‘ man sich’s versieht, schreibt man Mails mit einem ukrainischen Bekannten, der in Kiew lebt (und mit dem ich bei vFlyteAir virtuelle Flugzeuge für Flugsimulationen entwickle), um zu schauen, wie er, seine Frau und sein Kind gegebenenfalls für eine Weile ‚zu Besuch‘ kommen können.
Computerspiele und Krieg – da gibt es von Anfang an Verbindungen.
In meinem Buch „Let’s Play“ gibt es ein Kapitel zu der Thematik, in dem ich vor allem über die moralische Problematik der Beliebtheit von Kriegsspielen nachdenke. Da geht es mir weniger um das Klischee des ‚Killerspiels‘, sondern um Strategie- und Taktikspiele, die in ihrer Komplexität große Denkleistungen verlangen, will man erfolgreich sein. Da werden alle möglichen historischen Szenarien immer wieder und wieder aufgewärmt.
Besonders beliebt ist natürlich der Zweite Weltkrieg. Immer wieder und wieder versuchen Spieler*innen (ich gendere das mal wie gehabt, weil ich nicht ausschließen kann, dass es nicht nur Männer sind, die sowas spielen), das zu tun, woran Deutschland glücklicherweise am Ende gescheitert ist. Zwar gibt es auch Szenarien, die die Seite der Alliierten darstellen, aber wenn ein Spiel vielleicht anfangs ohne „große Kampagne“ auf Seiten der Deutschen rauskommt, werden in Foren sofort Stimmen laut, die das einfordern.
Andere Spiele widmen sich älteren Szenarien: Napoleon. Dreißigjähriger Krieg. Amerikanischer Bürgerkrieg. Eher selten der Erste Weltkrieg. In modernen Szenarien geht es um Korea, Vietnam, Irak, Afghanistan. Immer wieder und wieder wird echter Krieg nachgespielt, auf abstrakte Brettspiel-Weise, die das Leid echten Kriegs völlig ausblendet. Technisch plausible fiktive Zukunftsszenarien gleichen dabei fast schon Planspielen, die auch aus den Stuben echter Militärs stammen könnten.
Neulich habe ich kurz darüber nachgedacht, ob die Beschäftigung mit solchen Spielen gerade in Zeiten wie jetzt ein Weg sein kann, die individuelle Machtlosigkeit und Ohnmacht zu kontrollieren. Die abstrakten Nachrichten zu militärischen Details werden handhabbar, wenn man sie auf dem Spielbrett darstellt. Diffuse Spekulationen werden zu konkreten Möglichkeiten. Aber den Gedanken habe ich wieder verworfen. Es geht vor allem um die spielerische Herausforderung.
Wenn ein Nutzer für das Spiel Command Modern Operations (2019) Szenarien erstellt, in denen der russische Truppenaufmarsch seit Dezember detailliert nachgestellt wird … oder in einem Spiel wie Combat Mission: Black Sea (2021) nachgestellt wird, wie Russland die Ukraine einnehmen könnte … wieso? Im Werbetext des zuletzt genannten Spiels steht:
„Combat Mission Black Sea is a military grade simulation depicting a fictional series of escalations between Russian and Ukraine which results in open conflict in the summer of 2017. As Russian forces move into Ukrainian territory the Ukrainians do their best to defend their country against a numerically and technologically superior adversary. Events surrounding the invasion cause NATO to send its advanced rapid deployment forces to check the Russian advance. A brutal scenario, for sure, but one which allows you to get a glimpse of what full spectrum contemporary near-peer tactical warfare is all about.“
„Military-grade simulation“ … „brutal scenario“ … das zeigen soll, worum es bei heutiger taktischer Kriegsführung gehe. Quasi ein Bildungsszenario. Ganz toll. Dass solche Spiele in einer sehr langen Tradition stehen, die bis auf das preußische Kriegsspiel (1824) zurückgeht und dass manche Spiele des Genres explizit zur Ausbildung im Militär verwendet werden (wie das erwähnte Command), macht es nicht besser. Es geht um Unterhaltung.
Klar, ich verstehe das auch, sowohl als selbst Spielender als auch auf eine sachliche Art: Ganz abstrakt liefern solche Spiele herausfordernde Problemlöseszenarien. Wie Schach, nur komplexer und durch den Wirklichkeitsbezug ‚spannender‘. Ich selbst finde sowas ja spannend. Ich mache mich da echt nicht frei von. Auf dem Tablet, auf dem ich diesen Text hier schreibe, sind auch diverse Strategie- und Taktikspiele installiert. Und was tue ich zur Rechtfertigung? „Es ist doch nur ein Spiel“ ist jedenfalls keine gültige Ausrede.
In meinem Buch beziehe ich mich auf die Idee des Schattens von C. G. Jung, um mir zu erklären, warum man so etwas spielen darf und warum solche Spiele eigentlich nicht verboten werden. Weil man sich so seine eigenen dunklen Seiten bewusst machen kann. Anyway.
Jedenfalls halten solche Thematiken in Spielen die Möglichkeit solcher Ereignisse in der Realität im Bewusstsein. Sie bleiben denkbar. Und solche Spiele vermitteln die Illusion von Planbarkeit und Umsetzbarkeit. Dabei wäre es angebracht, die Undenkbarkeit von Kriegen zu vermitteln. Undenkbarkeit – immer wieder und wieder.
Der Himmel leuchtet mittlerweile düster-rot (echt, denke ich mir nicht aus).